03.05.2001
MUWA, Museum der Wahrnehmung, Graz
Helmut Lachenmann/Earle Brown/Quintett Musik
Gunther Schneider | gitarre und kontragitarre |
Barbara Romen-Schneider | gitarre und hackbrett |
Burkhard Stangl | e-gitarre und kontragitarre |
Manon Liu-Winter | klavier |
Franz Hautzinger | vierteltontrompete |
Programm |
Earle Brown (*1926) | Folio (1952/53) |
| October 1952 for piano |
| November 1952 ("Synergy") for piano(s) and/or other instruments or sound
producing media |
| December 1952 for one or more instruments or sound producing media |
| MM - 87 |
| MM - 135 |
| March 1953 for piano or to be performed simultaneously by two
pianos |
| Music for "Trio for Five Dancers" June 1953 for piano(s) and/or other
instruments |
| 1953 for piano |
| Four Systems (1954) for piano(s) and/or other instruments or sound
producing media |
Helmut Lachenmann (*1935) | Guero. Studie für Klavier (1970) |
| Salut für Caudwell für zwei Gitarristen |
| P a u s e |
Quintett | Musik. Improvisationen |
Earle Brown | Folio (1952/53) |
| Four Systems (1954) |
Earle Brown
Folio (1952/53) + Four Systems (1954)
Der aus Boston/Mass. gebürtige Earle Brown zählt zu den seltenst aufgeführten Klassikern des 20. Jahrhunderts; er war seit Anfang der 50er Jahre, gemeinsam mit Cage, Feldman, Tudor und Wolff, eine der führenden Figuren der "New York School" und von großem Einfluß auf die europäische Avantgarde. Sein Stück "December 1952" (aus "Folio") findet sich zwar in jedem Musikgeschichtsbuch abgelichtet, doch wer weiß, wie es klingt? Oder fragen wir lieber, wer hat es schon einmal gehört, denn so eindeutig ist das nicht mit dem Klingen... Ausgangspunkt für das Komponieren Earle Browns sind seine Gedanken über die einzelnen Dimensionen des musikalischen Tons. Alle Komponenten, die ihm eigen sind (Dauer und Höhen), erstrecken sich als oft teilbare Kontinua. Die Unterteilung dieser Kontinua in skalenartige Abschnitte und der daraus folgende Gebrauch dieser festgelegten Punkte wählen aus den unendlichen Möglichkeiten eine vergleichsweise geringe Anzahl aus. Das Nicht-Verzichten-Wollen auf die Unendlichkeit der Möglichkeiten, gemeinsam mit der Überzeugung, daß der Mensch in der Lage ist, diese Vielfalt zu erleben ("the unmeasuring eye and ear ... compatible with unmeasuring experience") sind Browns Musikansatz. Für ihn ist es Aufgabe des Komponisten, in diesem Kontext Strukturen zu führen, die als solche hörbar sind. "Multiple characteristic realization" ist denn auch die entscheidendste Formulierung aus Browns Vorwort zu "Folio". Die einzelnen Blätter des Stückes tragen Titel nach Monatsnamen und Jahreszahlen (October 1952 - June 1953), was gleichzeitig auf ihr Entstehungsdatum hinweist. "Nachdem ich 1951 und 1952 drei sehr präzise notierte und geregelte ,serielle Zwölfton'-Stücke geschrieben hatte, begann ich im Herbst 1952 mit einer Folge von Stücken, die ich ,Experimente in Notation und Aufführungsprozeß' nannte. Da ich Jazz gespielt und die Spontaneität und den Gemeinschaftscharakter dieser Musik bewundert habe - gerade das Gegenteil der strikten ,seriellen' Denkweise - wollte ich eine stärker flexible, transformierbare und in direkter Beziehung zum Konzept sowie zum Kompositions-, Aufführungs- und Hörprozeß stehende neue ,klassische' Musik finden. Die Folge von Werken, die sich aus dieser Suche entwickelte - sieben oder acht einseitige Partituren - wurde als ,Folio' (1952-53) bzw. ,Four Systems'(1954) veröffentlicht; letztere wurde als Geburtstagsgeschenk für David Tudor im Jänner 1954 geschrieben und in die Publikation von 'Folio' eingegliedert. Es handelt sich dabei um eine graphische Notation in offener Form für jede Anzahl jeder Art von Instrument. Die Partitur besteht aus vier Abschnitten, in denen Klangereignisse graphisch in ihrer Relation hoch-tief, lang-kurz, laut-leise und in verschiedenen rhythmischen Gruppierungen dargestellt sind. Mit diesen 'graphischen' Bedingungen sollte man verantwortungsvoll umgehen und sie dementsprechend aufführen. Eine sehr wichtige Dimension betrifft auch den spontanen Klang des Werks, der auf von den Ausführenden gemeinsam und individuell getroffenen Entscheidungen beruht. Jedes Ergebnis wird unterschiedlich sein und ist sehr wohl als Komposition der beteiligten Musiker zu bezeichnen, die auf den graphischen Auswirkungen von 'Four Systems' beruht."
Earle Brown, August 1994
Helmut Lachenmann
Guero. Studie für Klavier (1970)
"Guero" ist eine Studie, angeregt von Alfons Kontarsky, als dieser eine Sammlung kurzer Klavierstücke herausgab, denen charakteristische neue Spieltechniken zugrundeliegen sollten. Die jenem lateinamerikanischen Instrument abgeschaute Spielweise, das Gleiten über eine geriffelte harte Oberfläche, ist indes 'charakteristisch' allenfalls im prinzipiellen Sinn, nämlich als Beispiel eines verfremdeten Umgang mit einem kulturellen Requisit wie dem Konzertflügel, dessen eingebürgerte Bedeutung hier höchstens als umgangene wirksam wird. Der unmittelbar wahrzunehmende klanglich-formale Zusammenhang bezieht sich in diesem Stück auf die sich anbietenden verschiedenen 'Guero'-Klaviaturen (Tastenflächen, Wirbel, Saiten) jenes Möbelstücks und auf die daran geknüpften Bewegungsformen als Varianten eines quasi perforierten Glissandos. In seiner einfachen Koppelung von Verweigerung und Angebot bedeutet 'Guero' eine manuelle und zugleich psychologische Studie für den Pianisten, der, von seinem pianistischen Repertoire im Stich gelassen, dennoch als Musiker ausharren und sich finden muß - eine Studie auch für den Hörer." Helmut Lachenmann, 1977
Salut für Caudwell
Die typische Aura, wie sie an die Gitarre als Volks- und Kunstinstrument gebunden ist, schließt Primitives ebenso ein wie höchst Sensibles, Intimes und Kollektives, enthält auch Momente, die historisch, geographisch und soziologisch genau beschreibbar sind. Für einen Komponisten geht es nun nicht darum, sich dieses vorweg schon gegebenen Ausdruckspotentials schlau zu bedienen oder gar sich seiner verzweifelt zu erwehren, sondern die vorhin genannten Elemente als Teile der gewählten musikalischen Mittel zu durchdringen und sich gleichzeitig von ihnen durchdringen zu lassen. In diesem Sinne bin ich von charakteristischen Spielformen der Gitarre ausgegangen, habe sie in ihren grifftechnischen Details vereinfacht, zugleich aber auch umgeformt und neu entwickelt - oft über die Grenzen hinaus, die eine an jener Aura orientierte Praxis bisher gezogen hatte. Beim Komponieren, oder genauer: beim Entwerfen und Präzisieren der Klang- und Bewegungszusammenhänge hatte ich stets das Gefühl, daß diese Musik irgend etwas 'begleite', wenn nicht einen Text, so doch einzelne Wörter oder Gedanken: Dinge jedenfalls, die es zu bedenken gelte, die sich aber nicht aussprechen lassen, weil wir in einer weithin sprachlosen Gesellschaft leben, die durch Raubbau der Medien und durch rücksichtslose Manipulation der Emotionen ihr differenziertestes Verständigungsmittel untauglich gemacht hat. Angedeutet wird dies durch die Einbeziehung gesprochener Worte in Anlehnung an einen Text aus dem Buch ,Illusion und Wirklichkeit' des englischen marxistischen Dichters und Schriftstellers Christopher Caudwell, der vor rund vier Jahrzehnten als Dreißigjähriger in Spanien gefallen ist auf der Seite derer, die das Franco-Regime aufzuhalten versuchten. Caudwells Forderung im ästhetischen Bereich galt einer Kunst, die ihre Bedingungen kennt und ausdrückt im Namen einer Freiheit, welche sich nicht darauf beschränkt, den Kopf in den Sand zu stecken oder in private Idyllen zu flüchten, sondern sich mit der Wirklichkeit und ihren vielschichtigen Widersprüchen realistisch auseinandersetzt. Caudwells Denken - von seinen eigenen politischen Gesinnungsgenossen bis heute geflissentlich übergangen - bedeutet auch eine Absage an jene, welche einen derart politisierten Kunst- und Freiheitsbegriff erneut verkommen lassen, indem sie ihn in das Prokrustesbett von ideologischen Doktrinen zwängen, die sich inzwischen weithin als Vorwand für neue Formen von Unterdrückung entlarvt haben. Ihm und allen Außenseitern, die, weil sie die Gedankenlosigkeit stören, schnell in einen Topf mit Zerstörern geworfen werden, ist das Stück gewidmet."
Helmut Lachenmann
Barbara Romen & Gunter Schneider
Barbara Romen und Gunter Schneider begannen ihre musikalische Zusammenarbeit im Jahr 1990. Von Anfang an stand ihre Tätigkeit im Zeichen der zeitgenössischen Musik. Ausflüge führten z. B. zu barocken Sonaten für salterio (Hackbrett) und Basso continuo. Neben wichtigen Repertoirewerken (Lachenmann, Kubo, Brouwer, Gnattali) präsentierten sie eine Reihe von für sie geschriebenen Stücken, u. a. von Klaus Ager, Fernando Grillo, Gerold Amann, Martin Daske, Radu Malfatti und Burkhard Stangl. Ausgehend von spezifischen Spielsituationen sind auch eigene Konzepte und Stücke entstanden, die zum Teil im Bereich des instrumentalen Theaters angesiedelt sind.
Barbara Romen studierte Gitarre an den Konservatorien von Feldkirch und Innsbruck; außerdem besuchte sie Meisterkurse u. a. an der Accademia Chigiana in Siena bei Oscar Ghiglia. Sie unterrichtet Gitarre und Hackbrett an der Musikschule SÖM bei Innsbruck. In Konzerten und bei Rundfunk- und CD-Aufnahmen arbeitet sie mit dem Tiroler Ensemble für Neue Musik, dem Quartett Pro Arte Tiroliense, dem Ensemble ENIF, im Duo mit ihrem Ehemann Gunter Schneider und in jüngerer Zeit mit dem Improvisationsquintett "Montags Nie" (Siggi Haider, Nikolaus Meßner und Gunter Schneider) zusammen. Gunter Schneider studierte Gitarre und Musikwissenschaft in Innsbruck. Er unterrichtet an der Wiener Musikuniversität Gitarre, Kammermusik und Musik der Gegenwart. Als Solist und mit verschiedenen Ensembles hat er sich als Interpret Neuer Musik einen Namen gemacht. Er arbeitet u. a. mit dem Ensemble Modern Frankfurt, dem Klangforum Wien, dem RSO-Wien, mit Burkhard Stangls Maxixe, mit Franz Hautzingers Dachte Musik zusammen, und er realisiert eigene Ensembleprojekte mit ENIF, mit Call Boys Inc., mit Wolfgang Mitterer, Klaus Dickbauer und Günther Selichar, mit Tyromanie 1993, mit Guitaromanie 1999 und mit Montags Nie. Kompositionen sind für Die Knödel, Die Stimmen, The Guitar4mation, Het Serenade Trio Amsterdam und ENIF entstanden; auch liegen Gitarrenwerke im Druck vor.
Manon-Liu Winter
Studium an der Wiener Musikuniversität bei Hans Kann und Oleg Maisenberg. Konzerttätigkeit in Deutschland , Italien, Großbritannien, Albanien, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Frankreich, Norwegen, Schweiz und Österreich. Besonderes Engagement im Bereich der Neuen Musik und freier Improvisation. Die intensive Auseinandersetzung mit der Musik des 20. Jahrhunderts führte zur persönlichen Arbeit mit Komponisten wie John Cage, Maurizio Kagel, Luca Lombardi, Peter Ablinger, Christian Ofenbauer, Dieter Schnebel, Konrad Rennert, Radu Malfatti, Katharina Klement u.v.a. Soloabende, Uraufführungen (z. T. von gewidmeten Werken für verstärktes Clavichord, etwa von Jungwirth, Keil, Malfatti, Klement ...) und Österreichische Erstaufführungen. Mitwirkung im Klangforum Wien, im Ensemble 2001; Konzerte bei Wien Modern, beim Festival Hörgänge, bei KlangArten, etc., Multimediaprojekte. Rundfunk- und Fernsehproduktionen. Im Bereich der Improvisation Projekte für Film, Theater und Tanz, Konzerte. Workshops für Klavierimprovisation, weiterbildende Seminare für Musikschullehrer (NÖ); Klangnetze 1999/2000. Seit 1995 Dozentin bei den Wiener Tagen der zeitgenössischen Klaviermusik. Derzeit Unterrichtstätigkeit in Klavier an der Wiener Musikuniversität.
Burkhard Stangl
geboren in Eggenburg/NÖ; Studien: Ethnologie, Musikethnologie; parallel dazu vorerst klassische Gitarre, später Hinwendung zur E-Gitarre. 1985 Gründung von TON.ART (zwei CDs) und 1991 des Kammerensembles MAXIXE (damit u.a.: Ervín-Schulhoff-Projekt 1991, Ereignislose Musik sowie Random Acoustics 1994; Zarte Knöpfe, Lose Schrift 1996); 1997 Solo-CD "Récital" und Mediengruppe NIVEAU, die sich mit analogen akustischen und visuellen Seiteneffekten digitaler Arbeitsweisen befasst (echoraum/Wien, 1997; Ace Gallery/Los Angeles, 1998;). CD-Veröffentlichungen. Konzerte und Aufführungen mit Sam Bennett, John Butcher, Tom Cora, Thomas Chapin, Tony Coe, Werner Dafeldecker, Franz Hautzinger, Klangforum Wien, Franz Koglmann, Steve Lacy, Radu Malfatti, Walter Malli, Max Nagl, Josef Novotny, Sainkho Namtchylak, Ned Rothenberg, Gunter Schneider, Tom Varner u.v.a.m. Mit Charles Fischer (perc) Gründung des Ernesto Molinari Trios, das sich mit der Improvisation beschäftigt. Kompositionen (Auswahl): Konzert für Posaune und 22 Instrumente (1994);
Natur 2/4 für Kammerensemble (1995); Faible.Timbre.Teint und Partitur für Gitarre-Solo (1996); Der Venusmond, eine Oper in Etappen (gemeinsam mit Oswald Egger - bisher New York [Empire State Building], Krems [Kunsthalle] 1997 und Chicago, 2000 /work in progress). Lebt in Wien.
Franz Hautzinger
Komponist und Interpret zeitgenössischer und improvisierter Musik. Studierte Trompete und Komposition an der Grazer Musikuniversität und am Konservatorium der Stadt Wien. Seit 1989 Lehrauftrag für Ensembleleitung, Komposition und Arrangement an der Wiener Musikuniversität. Als (Gast-)Solist zahlreicher Ensembles, Kooperationspartner international renommierter Künstler (u. a. Elliott Sharp, Gil Evans, Sainkho Namtchylak, Steve Noble, Christian Fennesz, Yoshihide Ohotomo, Marc Ducret, Radu Malfatti, Tony Oxley, Joachim Kühn) und als Leiter eigener Projekte ("Franz Hautzinger Speakers Corner", "Dachte Musik", "Regenorchester", Gomberg) zählt er zu den profiliertesten österreichischen Musikerpersönlichkeiten. Er wirkte bei zahlreichen CD-Aufnahmen mit und produzierte mit "Speakers Corner" selbst zwei CDs.