vorhergehendes Konzert nächstes Konzert

Montag, 07.06.2004, 20 Uhr
Orpheum, Großer Saal, Graz

zeitkratzer - Xenakis [a]live

Reinhold Friedl (Berlin)piano / komposition
Burkhard Schlothauer (Berlin)violine
Anton Lukoszevieze (London)cello
Uli Phillipp (Wiesbaden)kontrabass
Frank Gratkowski (Köln)klarinetten
Franz Hautzinger (Wien)trompete
Melvyn Poore (Köln)tuba
Marc Weiser [rechenzentrum] (Berlin)electronics
Maurice de Martin (Berlin)percussion
Ralf Meinz (Stuttgart)sound
Andreas Harder (Berlin)licht

zeitkratzer erweist Xenakis die Ehre: der mühsam erarbeitete Instrumentalcharakter seiner Elektronikklänge wird zu seinem Ursprung zurückgeführt. Klangmaterialien und -texturen aus Werken wie Persepolis, Concret PH entsprechen ohnehin den berüchtigten Qualitäten des zeitkratzer-sounds zwischen metaphysischem Rauschen und gewalttätigem Noise, zwischen Aphrodisiakum und Schocktherapie, wie zuletzt mit zeitkratzers legendärer Lou-Reed-MetalMachineMusic-Version bereits bewiesen. Nun geht zeitkratzer einen Schritt weiter.
Besonders Xenakis' Tonbandkomposition Persepolis ist eine Umsetzung für verstärkte Instrumente bereits doppelt eingeschrieben: zum einen der Instrumental-Klang; nicht umsonst hat sich Xenakis um den Streit zwischen deutscher elektronischerMusik und musique concrète nicht geschert, sondern sich um eine Lebendigkeit des Klanges bemüht, wie es auch seine Beschäftigung mit den Vorläufern Granular-Synthese zeigt. "nur wenn die 'reinen' elektronischen Klänge durch 'konkrete' Klänge, die soviel reicher und so sehr viel interessanter sind, kombiniert werden, kann elektronische wirklich stark werden" (Xenakis: "New Proposals in Microsound Structure", 1968). Darüberhinaus verwendete Xenakis mit Vorliebe Instrumentalklänge als Material für seine Tonbandkompositionen. Daß Reinhold Friedl mit zeitkratzer nun hierauf zurück kommt um sozusagen das Xenakis'sche Konzept der "mehrschichtigen und mehrdimensionalen Physik des Klanges" (Ivanka Stoianova) fortzuführen, liegt nahe - schließlich verfügt zeitkratzer mittlerweile über eine enorme Erfahrung mit elektronisch verstärkten Instrumenten und durch die Elektronik rückbeeinflußten avancierten Spieltechniken.
Zum anderen sind seine Zufalls-Techniken, die Xenakis "statistisch", sozusagen textural und zumeist lokal einsetzt auf verblüffende Weise auf das Instrumentalspiel übertragbar: instrumentale Motorik bildet durch klar definierte, aber mit Freiheitsgraden versehene Aktionsanweisungen präzis bestimmte Zufallsgeneratoren, die gepaart mit genauen Klanganweisungen überraschend ähnliche musikalische Resultate erzeugen, wie "das Singen der Zikaden, der Lärm der Regentropfen auf dem Zirkuszelt, die geordneten oder ungeordneten Rufe einer politischen Demonstration, die Gleitklänge der Geschosse beim Straßenkampf" (Xenakis: Musique, Architecture, Paris 1971), die Xenakis als klangliche Vorbilder dienten.
So wird zeitkratzer Xenakis' Ideen, die er gerade in seinem elektroakustischen Oeuvre zu realisieren suchte, in logischer Konsequenz mit elektronisch verstärkten Instrumenten fortführen und umsetzen; und die Grenzen zwischen den "Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Instrumente", die Xenakis 1969 in seinem Werk Anaktoria untersuchte, weit in damals noch unmögliche Bereiche verschieben. Hin zu Xenakis "orgiastischen" und "holistischen" Klangarchitekturen.


zeitkratzer trat 1997 mit provokantem und nicht nur deswegen vielversprechendem Anspruch an. zeitkratzer macht mit dem Ensemblemusikertum Schluß und neue Arbeitsformen fruchtbar. zeitkratzer verabschiedet sich vom Standardrepertoire des nunmehr letzten Jahrhunderts, und begrüßt die jahrhundertelang von Bach bis Webern praktizierte Normalität des ComposerPerformers. zeitkratzer arbeiten als und mit Komponisten, paktiert mit Klangkünstlern, Elektronica-Avantgardisten, Körperkünstlern, Rockstars, Video- und Lichtinstallateuren, … zeitkratzer folgt den Ohren mit äußerster Konsequenz: die Augen hören mit. Geladen werden nicht nur akademisch Geweihte, wesentlich ist nicht Notation oder Konzept, sondern Klang und Musik. Die Öffnung hin zur Multidisziplinarität ist nicht mehr neu, sondern künstlerischer Alltag. Fundament dieses aus allen Ecken Europas zusammengesetzen Ensembles sind die avancierten und einzigartigen Spieltechniken der Musiker, ihr Umgang mit Elektronik und Technologien, ihre hybriden Erfahrungshintergründe: Neue oder improvisierte Musik, experimenteller Rock und Pop, Noise, Ambient, Beethoven, Volksmusik, …

zeitkratzer ist Nutznießer der internationalen Solokarrieren seiner Musiker: deren Erfahrungen reichen vom Berliner Philharmonischen Orchester, Rockformationen wie Element of Crime, über Ensemble Modern und Nikis Theodorakis bis hin zu Chamber Orchestra of Europe, Rod Stuart oder Hochzeitsfeiern … zeitkratzer bespielt Parks, Neue-Musik-Festivals, Fabrikhallen, Jazz-Events, Opernhäuser, Rock-Clubs, Nationalgalerien, Impro-Festivals, Tanztage, städtische Theater, … Der Mut zu offenkundigen musikalischen Gegensätzen prägt das Repertoire von zeitkratzer. über hundert Musiker und Komponisten, darunter Lou Reed, Keith Rowe (AMM), Laurie Schwartz, Carsten Nicolai (noto), Radu Malfatti, Nicolas Collins, Phill Niblock, Nico Richter de Vroe, Terre Thaemlitz, Mario Bertoncini, Merzbow (Masami Akita), John Duncan, Pluramon aka Marcus Schmickler, Bernhard Guenter, Dror Feiler, Lee Ranaldo (Sonic Youth) oder Elliott Sharp, und Tänzer wie Sasha Walz, Christoph Winkler oder die Rubato Dance Compagnie arbeiten mit zeitkratzer. "Aber es scheint neuerdings kein Halten mehr zu geben für die Berliner Hardcore-Neutöner auf ihrem Weg in die erste Reihe der Musikforscher zwischen Roch' n' Roll und Avantgarde." schrieb der Tagesspiegel, The Wire Magazine London kommentierte die ersten CD-Veröffentlichungen mit: "zeitkratzer will soon be the center of innovative music. This project promises to be endlessly fascinating" und der Komponist Hans-Joachim Hespos äußerste gar in einem Interview: "Das aufregendste Ensemble, das wir in Deutschland haben!", wohingegen die taz sich kurz faßt mit "zeitkratzer verfügt über einen sensationellen Sound" und die Frankurter Allgemeine mal wieder den Untergang des Abendlandes beschwört: " - da geraten in der Tat traditionelle Wertigkeiten des Abendlandes ins Trudeln".

Links
Zeitkratzer http://www.zeitkratzer.de
Iannis Xenakis http://www.iannis-xenakis.org